Ich stand mal wieder am Fenster und dachte lange nach. Ich habe ein
Jahrzehnt von meinem Gehalt alles angekauft, was ich jemals haben
wollte. Und nun will ich alles, was ich nicht mehr brauche, loswerden.
Ein Unterfangen, das sich aufgrund der Fülle und Auktionslängen einer
Woche auf Ebay über ein Jahr erstreckt.
Damals, so sinnierte ich, hatte ich fast nichts, außer im Wesentlichen
einem GameBoy, SNES, Lego und ein paar Kassetten. Der Rest zum Überleben
lag in der Wohnung meiner Eltern. Für SNES konnte ich mir keine Spiele
leisten. So hatte ich nur zwei Dutzend GameBoy-Spiele, mit denen ich
mich jahrelang nonstop beschäftigen konnte. Bekam ich später auch ein
paar CDs, liefen die monatelang. Man kennt die Entwicklung sicher, die
ich jetzt beschreibe. Man wird mit dem Alter begeisterungsunfähiger,
gewiss. Doch ich sehe da noch mehr hinter. Als Azubi konnte ich mir
einige aus der Kindheit heiss ersehnte Spieleklassiker nachkaufen, die
mich dann aber nicht mehr so lange an der Konsole hielten. Gott sei
Dank, denn besonders erstrebenswert finde ich es als Erwachsener nicht
mehr, seine Lebenszeit mit ein paar primitiven digitalen Spielen zu
verbringen. Und nun mit dem Internet habe ich die Möglichkeit, ALLE
Klassiker als Emulatoren zu spielen. Anfangs glich das dem
Schlaraffenland, heute mehr als Schrottplatz. Kaum hatte ich Spiel A mal
angespielt, war mein Verlangen danach, Spiel B zu spielen, größer. Und
so weiter.
So ging es aber nicht nur bei Spieleoldtimern. So geht es bei allem,
irgendwie. Mit 50 Gigabyte an Musik wusste ich immer, was ich hören
wollte. Heute, mit 200 GB, weiß ich es schon nicht mehr (und über 200 GB
werden viele sicherlich lachen!). Wenn man das nicht mehr weiß, liegt
es nahe, sich mit dem Neuesten, was man in die Finger bekommt, zu
beschäftigen. Also alles, was man noch nicht kennt, bis wieder etwas
Neues greifbar wird. Ich stelle daraus fest, dass Überfluss ein wenig
oberflächlich, halbherzig und schwerer begeisterungsfähig macht -
tendenziell.
Ich glaube, dass als Folge der Wachstumsprämisse unserer westlichen
Gesellschaft das Angebot an Medien, Kultur und Waren zu einem
Überangebot heranwuchs, durch das wir selber keine persönlichen Befriedigungs-/Sättigungsgrenze
mehr kennen. (Wir sind uns nicht mal im Klaren, dass als Folge unseres
Systems vorab knapp die Hälfte aller Lebensmittel für den Müll
einkalkuliert wird). Natürlich wird auch ohne ein verlockendes
Überangebot alles irgendwann uninteressant und will ersetzt werden. In
den 80ern konnten "wir" uns auch für viel mehr begeistern als heute,
weil man vieles auch noch nicht kannte. Da konnte man, als
Kabelfernsehen neu war, stundenlang Teleshopping gucken, während da
heute nur noch jeder die Nase rümpft.
Ich glaube aber, dass wir durch den Reiz der Überangebote zum Maximalismus verleitet
werden. Kaum hat man das Eine, kommt ein Jahr später was Neues, das
erstrebenswerter erscheint und den Stellenwert des Alten verdrängt.
In manchen Dingen ist der Konsum allein der Sinn des Strebens geworden.
Wir leben und definieren uns hier und da bloß über den Konsum - so las
ich es aus der soziologischen Lifystyle-Forschung. Wie oft werden von Jugendlichen Accessoires gekauft, nur um für ein
Internetprofilfoto am eigenen Leib wie eine Trophäe fotografiert zu
werden. Ich finde es sehr interessant, sich absolut selbstehrlich zu
fragen, wann man eigentlich genug hat und mit seinen gegenwärtigen Besitztümern für einen längeren Zeitabschnitt konsistent glücklich leben kann.
Ob ein nach den Bedürfnissen orientierter Minimalismus überhaupt eine
bessere Alternative ist, will ich gar nicht behaupten. Ich kenne spontan
drei Beispiele aus meinem Umkreis. Ein Kollege hat sich eine horrend
teure Snowboard-Ausrüstung gekauft und es nur ein Mal im Urlaub in den
letzten 10 Jahren ausprobiert, eh der neueste 3D-Fernseher seinen
vorherigen LED-TV ersetzte. Ein anderer kaufte sich ein arschteures
Rennrad und hat es auch nur einmal benutzt. Seine Hoffnung lag darin,
Anschluss bei anderen Kollegen zu finden (Besitztümer für Teilhabe an
der Gesellschaft?).
Ein Freund kaufte mir damals meine PS2 ab, die jahrelang unberührt
verstaubte, bis er sich nun die PS3 kaufte, die nun ebenfalls
jungfräulich in seinem Schrank verenden wird. Auch da lag die Motivation
sichtlich nur in der Hoffnung, Kontakt und Anschluss zu
halten/schaffen. Brauchen tut er sie aber nicht. Freilich gibt es auch
viele Gegenbeispiele wie meine Eltern, die sich gegen jede neue
Investition sträuben und alle Geräte bis zur äußersten Lebensdauer
ausreizen.
Doch in allen drei Beispielen erkenne ich die Möglichkeit, sich in
diesem schnelllebigen Materialismus in verschiedenen Bereichen
ausprobieren zu können und seinen Horizont über materielle Dinge zu
erweitern - Argument pro.
Argument Contra: wird man bei der Qual der Wahl und den ständig neuen
Dingen überhaupt mal irgendwo für eine gewisse Lebensphase ankommen
(sagen wir mal für einige Jahre oder Jahrzehnt)? Und das befriedigende
Gefühl verspüren können, dauerhaft genug zu haben und nichts mehr an
mittel bis großen Investitionen zu brauchen? Und sich dafür an den
kleinen Dingen des Alltags erfreuen können?
Special-Extended-Bonusmaterial
Ich muss an dieser Stelle an einen meiner Lieblingsfilme denken. Zitat von "39,90" zu Beginn:
"Man kann alles kaufen: die Liebe, die Kunst,
den Planten Erde, Sie, und mich. Vor allem mich. Der Mensch ist ein
Produkt wie jedes andere. Mit einem Verfallsdatum. Ich bin
Werbefachmann. Ich bin der, der Sie von Dingen träumen lässt, die es für
Sie niemals geben wird: ein ständig blauer Himmel, makellose Mädchen,
perfektes Glück - retuschiert mit Photoshop. Sie glauben, ich würde die
Welt verschönern? Falsch. Ich mache sie kaputt. Alles ist nur
provisorisch: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, und ich. Vor
allem ich.
Ich bin eigentlich eher ein Stück Scheiße. Ein moderner Held eben.
Meine Hosen finde ich in der Vogue oder Vanity Fair, einen Monat vor
Erscheinen. Meine Hemden kommen aus New York, Tokyo, Bombay, Guéthary.
Tut mir leid, dass ich Ihnen so weit voraus bin, aber ich bin nun mal
der, der heute entscheidet, was Sie morgen wollen. Ich mache Sie süchtig
nach Neuem. Und das Schöne am Neuen ist, dass es nie lange neu bleibt.
Sie sollten anfangen, mich zu hassen. Bevor Sie die Zeit hassen, die
mich hervorgebracht hat."
"Übrigens, mein Name ist Octave, und meine Kleidung ist von APC. Mein Job
ist es, Sie für 75000 Franc im Monat zu manipulieren. Wenn Sie genug
Geld zusammengespart haben, um sich endlich Ihr Traumauto kaufen zu
können, habe ich längst dafür gesorgt, dass es nicht mehr angesagt ist.
Ich sorge für Ihre Frustration. Ich bin es, der Ihren Geist penetriert
und in Ihrer rechten Gehirnhälfte zum Höhepunkt kommt. Sie haben kein
eigenes Verlangen mehr. Ich zwinge Ihnen meines auf. Kein anderer
verantwortungsloser Idiot hatte in den letzten zweitausend Jahren so
viel Macht wie ich."
Zitat von 39,90 gegen Ende:
"Alles ist käuflich: die Liebe, die Kunst, der
Planet Erde, Sie, ich. Ich schreibe dieses Buch, um gefeuert zu werden.
Wenn ich selbst gehe, gibt es kein Geld. Ich muss den Ast absägen, auf
dem mein Komfort sitzt. Meine Freiheit heißt Arbeitslosenversicherung.
Ich werde lieber von einer Firma entlassen, als vom Leben. DENN ICH HABE
ANGST. Um mich herum sterben die Kollegen wie die Fliegen: Herzschlag
im Schwimmbad, Myokardinfarkt als Legende für eine Überdosis Kokain,
Absturz mit dem Privatjet, Karambolage mit dem Kabriolett. (…) Alles ist
vorläufig, alles ist käuflich. Der Mensch ist eine Ware wie alle
anderen, er hat ein Verfallsdatum. Deshalb bin ich entschlossen, mit 33
abzutreten. Offenbar das ideale Alter für eine Wiederauferstehung. (…)
Ich heiße Octave und kaufe meine Klamotten bei APC. Ich bin Werber: ja,
ein Weltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. Der
Sie von Sachen träumen lässt, die Sie nie haben werden. (…) In meinem
Metier will keiner Ihr Glück, denn glückliche Menschen konsumieren
nicht."
Persönliches Fazit aus allem:
Wer weniger Möglichkeiten hat, hat auch nicht die Qual der Wahl.
Besteht ein Angebot, entsteht auch ein Interesse daran. Besteht das
Angebot nicht, ist auch nicht unbedingt ein Interesse daran vorhanden.
Ist es umgekehrt, also will man etwas, wo noch eine Marktlücke existiert
und will man die Dinge nicht, die dafür existieren, kann man Tendenzen
einer autodeterministischen Natur darin sehen. Oder, aus Sicht der
Mitläufer, einen eigenwilligen Trotzkopf. Dieser weiß jedenfalls, was er
will und was nicht. So ergeht es mir derzeit, wenn ich bei GameStop bin
und man mir immer diese modernen Spiele wie RE6, Mass Effect und Skyrim
andrehen will und mich dann völlig verständnislos anguckt, wenn ich
daran kein Interesse habe. Ich habe derzeit viel mehr Motivation dafür,
die Welt zu verändern oder etwas Großes auf die Beine zu stellen. Also
ab zurück ins Weltherrscher-Labor.
Update 1:
Ich habe auch gleich einen Nachschlag mitgebracht, der recht gut hierzu
passt. Ein sehr interessanter Vortrag, der mal im Radio morgens lief.
Man kann ihn sich je nach Belieben auf folgendem Link anhören oder als
PDF runterladen (geht 30-40 Minuten lang). Kann ich jedem nur
empfehlen!!
> Wohlstand ohne Wachstum
Der Autor spricht vierschiedene Bereiche eher oberflächlich und
philosophisch an. Ich könnte jeden Aspekt noch weiter vertiefen. Ich
will hier nur zwischen qualitativen und quantitativen Wachstum
unterscheiden. Qualitativ heißt, dass Technologien besser, effizienter,
umweltfreundlicher, langlebiger werden und Produkte und Lebensstil
gesünder, nachhaltiger, etc. Quantitativ heißt grob gesagt immer mehr,
mehr, mehr (BIP, Produktionsraten, Verkaufszahlen, etc.). Und das geht
auch aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht nicht lange gut.
Vor allen Dingen geht mit dieser Art des Wachstums zwangsläufig auch eine räumliche Expansion einher. Da habe ich schon bei einem gespielten Bauprojekt in der Uni gefragt: "Welche
Natur wollen wir mit niedrigen Emissionen schützen, wenn hier und auch
anderswo in der Welt bald alles zugebaut ist? Es sollen alle übrigen
Flächen bebaut werden und wir betreiben eine Art modernen Ablasshandel
mit schönfärbenden Effizienzzahlen mit Solar und Regenzisternen...".
Einige Menschen, die gerne in Städten leben, scheint es nicht zu stören.
Die schaffen es, die globalen Folgen gekonnt mit ihrer Lebensweise zu
verdrängen. Ich nicht.
Update 2:
"Es
gibt Menschen, die arbeiten jahrelang auf ein Ziel hin und wenn sie es
erreicht haben, sind sie trotzdem nicht glücklich. Ich glaube nicht,
dass die Menschheit jemals "satt" wird."
Das ist wohl war. Denn man braucht immer ein Ziel oder
irgendetwas, das seinem Dasein einen Sinn verschafft. Ich kenne aber
auch viele, für die dies der bloße Hedonismus im Leben ist. Im Klartext:
auf der Arbeit so wenig wie möglich tun, sich beruflich und privat bloß
nicht weiterentwickeln, meist vor dem PC hocken (Call of Duty oder WoW
mit den Kollegen) und dafür immer das neueste an Autos, Iphone und
Lifestyle-Gedöns.
Mir wurde das schnell zu schnöde und dem ganzen Beruf (durch
Technisierung zum Fließbandjob verkommen) wurde ich überdrüßig. Deshalb
schreibe ich jetzt ein neues Lebenskapitel - tabularasa!
Ich vergesse nie, wie stolz ich damals auf meinen ersten Lexus war. Erst
ein exklusiver Nobelschlitten und zwei Jahre später wirkte die Karre
gegenüber den Faceliftings neuerer Autos wie ein stinknormaler
Mittelklassewagen. Die Extraausstattung, einst Luxus (Navisystem,
Sitzheizung, Klimaautomatik, etc. pp), war dann bald schon Standard und
verlor an Verkaufswert. Kaum gewöhnte ich mich an das aktuelle Auto,
begehrte ich exklusivere Autos wie Porsche.
Zum Glück gibt es auch andere Wege, sich Ziele zu setzen und ein
stetiges Mehr/Neues zu finden, als über den Konsum. Beispielsweise mit
Wissen, Fähigkeiten, Erfahrungen, Erlebnissen, Kultur, etc. Wohlstand
macht uns schließlich nicht besser, sondern eher träge, verweichlicht und inkompetent - mMn fern das Prinzip von Dekadenz.
Wenn sich nur noch der Materialismus als einziger Sinn des Lebens
anbieten würde, um "satt" zu werden, dann würde unser Planet in viel
näherer Zukunft so aussehen wie in dem Film Wall-E. Dieses alternative
Denken wird leider vor allem durch die Medien und Werbung in unserer
Alltagskultur verdrängt.
Das wissen die meisten zwar, doch richtig begreifen nur
wenige. Ich muss auch zugeben, dass es nicht leicht ist, sich
aufzuraffen und neue Lebensinhalte (Hobbies z.B. - aber nicht mit
virtueller Realitätsflucht) für sich zu entdecken. Ich habe mir übrigens
eine To-Do-Liste verfasst, in der auch Hobby-Ideen zum Ausprobieren
stehen.